Heute Morgen weckte mich kein Vogelgezwitscher. Als ich hinausschaute, blickte ich in einen grau-geschlossenen Himmel.
Offensichtlich mögen Vögel Regen auch nicht so sehr, dachte ich verständnisvoll.

Aber, was war das? Vor dem nassen dunklen Stamm des Ahorns entdeckte ich einen grünlichen Schimmer, der sich sanft bewegte. Gestern war das noch nicht zu sehen- ein Blatt? Endlich!
Sehnsuchtsvoll hatte ich täglich meinen Baum betrachtet und beobachtet, wie die Knospen dicker und dicker wurden.
Und nun entdeckte ich vom Bett aus das erste Grün – ein Maigrün, mehr gelblich als bläulich.
Das ist ein Frühlingsversprechen. Die graue Nässe war vergessen.
Nun suchte ich eine Knospe nach der anderen ab. Die Äste waren so tot, so winter schwarz, dass jeder Farbtupfer sofort auffiel.

Wie liebte ich meinen Baum. Er hatte sich im Blumenkasten selbst ausgesät. Nachdem er so enorm gewachsen war, dass er den Kasten zu sprengen drohte, pflanzte ich ihn in einen großen Kübel. Seither war er zu einem stattlichen Bergahorn heran gewachsen, spendete Schatten und schenkte mir die Illusion inmitten eines Waldes zu schlafen.

Der Baum wuchs und wuchs, erfüllte ganz und gar die Symbolik vom Lebensbaum.

Jedes Jahr verbarg er mit seinem Laub die fernen Häuser und im Herbst schenkte er die lustigen Samenflügel, bevor er sich im Winter zum Schlafen zurückzog. Dann schöpfte er wieder Kraft, um weiter zu wachsen hoch über die Etage hinaus.

Allmählich hatte ich begonnen, mir Sorgen zu machen, wohin er noch wachsen wollte.
Mir fiel das Märchen vom süßen Brei ein. Ein armes Mädchen hatte einen Topf mit süßen Brei geschenkt bekommen, der sich immerzu füllte und nur aufhörte, wenn man sagte: „Töpfchen steh still.“ Vergaß man das Zauberwort, hörte das Töpfchen nicht auf, Brei zu kochen, der dann bald über den Rand quoll, sich in der ganzen Stube verbreitete, über die Straße hinweg in andere Häuser drang.Musste ich meinem Baum Einhalt gebieten?
Plötzlich erinnerte ich mich an die ungeheure Naturkraft der Würgefeigen in Ankor Watt, Kambodscha. Lebhaft sah ich die gesprengten Mauern der Tempel und Buddhaskulpturen vor mir. Jahrhunderte lang war der riesige Stadtkomplex vom Urwald überwuchert worden und verschwunden so wie die Azteken Tempel in Mittelamerika.

Schließlich rief ich meinen Bruder zu Hilfe, der mit einer Schere das Wachstum so bannte, dass der Baum nun in die Breite wuchs.

Jetzt erwartete ich wieder sehnsuchtsvoll das Laub aus den scheinbar abgestorbenen Ästen – wahrhaftig ein Symbol des Lebens, der Wiederauferstehung, des ewigen Kreislaufs.

Der Baum – ein Symbol des Lebens – des stetigen Wandels – ein Lebensbaum wie er in der Mythologie der Menschheitskulturen existiert:

Ein Baum symbolisiert die Welt: die Wurzeln sind die Unterwelt, der Stamm die Welt der Menschen und die Krone steht für den Himmel, erinnerte ich mich und konnte es kaum erwarten, wieder in seinem Schatten zu sitzen;

und von meinem Bett aus die Vögel zu beobachten: die Blau- und Kohlmeisen, Rotkehlchen, sogar ein Zaunkönig hatte sich nach hier oben verirrt.

Während ich dieser Erinnerung nachhing, fiel mir ein Kinderlied ein:

„Kommt ein Vogel geflogen,
setzt sich nieder auf mein‘ Fuß,
hält ein Briefchen im Schnabel,
von dem Liebsten einen Gruß.“…….

Ist im Japanischen das Ahornblatt nicht ein Liebessymbol? Wie passend, obwohl die Japaner dabei wahrscheinlich an ihren Feuerahorn denken und nicht an den Bergahorn, der sich im Herbst „nur“ in strahlendes Gelb verwandelt.

Für mich ist der Bergahorn die Weltesche Yggdrasill der Germanen. Und wenn ich gut mit ihr umgehe, wird sie vielleicht für mich auch der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.

Zumindest symbolisiert mein Baum die Magie des Wandels, des ewigen Lebendigseins durch Veränderung.