Vor ihrem inneren Auge türmten sich Wolkengebirge. War sie deshalb im dunklen, nassen November an die Nordsee gefahren? Nicht an einen Südseestrand?
Warum machst du das?, hatten Freunde sie gefragt. Und dann allein? Du wirst dich langweilen – nichts ist los. Alle Strandbars geschlossen und sich sonnen, kann man ohnehin nicht- zu kalt, zu nass.
Man kann sich noch nicht einmal hinsetzen, wenn man müde vom Sandstapfen geworden ist, dachte sie. Zu nass.
Also, warum?

Und außerdem: war das Reisen heute für einen ökologisch verantwortlichen Menschen nicht ohnehin ziemlich fragwürdig? Nur zu rechtfertigen, wenn man, ja was? Sinn- Verstehen suchte? Es sei denn man reiste, um sich zu erholen – also wegfahren, um sich zu entspannen, etwas zu erleben. Sich von dem Fremden berühren, vielleicht sogar verändern zu lassen, wohl eher nicht. Man nahm ja neben der Zahnbürste alles Vertraute, sein Ich, mit.

Und „schön“ war das dicke nasse Grau auch nicht und zu gleichförmig als dass es ästhetisch reizvoll gewesen wäre. Die Weite von Meer und Grenzenlosigkeit des Himmels – verschlossen.
Auch kein wild schäumendes Element, eher die Verlorenheit wie in Richard Wagners „Fliegenden Holländers“ in seiner ewigen Aussichtslosigkeit.
Sie stapfte mühsam, leicht verdrossen vor sich hin. Nach einer Weile blieb sie stehen, um Luft zu holen. Laufen gegen den Wind strengte an. Als sie aufblickte, starrte sie fassungslos in eine haushohe Wand, die aus dem Nebel, aus dem Nichts sich vor ihr auftürmte. Unwillkürlich wich sie zurück und starrte das Ungetüm entsetzt an, das da geräuschlos vor ihr aufragte. Was war das? Woher kam das?
Angewurzelt blieb sie auf dem Fleck stehen und starrte und starrte und konnte es nicht fassen. Plagen mich Halluzinationen? Materialisiert sich „Der fliegende Holländer“? Nur ohne Wagner Gebraus, sondern vollkommen geräuschlos. Unheimlich. Bewegungslos. Sie hatte das Zeitgefühl verloren, wusste nicht mehr, wie lange sie so stand. Vom angestrengten Starren tränten die Augen. Und dann – ja – kaum merklich veränderte sich die Wand; aus dem hohen Rechteck wurde nach einer Ewigkeit ein langgestrecktes, was sich im Wasser bewegte. Geräuschlos, langsam wieder verschwand. Im Nebel.
Allmählich löste sie sich aus ihrer Erstarrung, um weiter zu gehen. Doch das schien unmöglich. Sie konnte keinen Schritt tun. Erschreckt, verwundert und irritiert fragte sie sich, ist hier ein übler Zauber aus uralten germanischen Mythen am Werk? Der mich bannt bis ich das Rätsel gelöst habe?
Während sie so auf das Ungetüm gestarrt hatte, war sie unmerklich im Schlick des Wattenmeeres eingesunken. Sie war im Nebel ins Wattenmeer hinaus gelaufen. Deshalb war das Gehen so anstrengend gewesen! „Und wie komme ich jetzt wieder raus? Ohne meine Gummistiefel schon am 2. Ferientag zu opfern?“

Irgendwann war es ihr dann doch gelungen. Aufatmend und schweißgebadet hatte sie den festeren Sandboden am Strand erreicht. Auch der Nebel hatte sich etwas gelichtet.

Schemenhaft ließ sich an der unterschiedlichen Färbung Strand und Wattenmeer unterscheiden.
„Das war knapp“, hörte sie eine Stimme hinter sich. Sie fuhr herum und blickte in ein bärtiges, nicht unfreundliches Gesicht. „Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, Sie so weit draußen im Watt zu sehen bei diesem Nebel“.
„Mh, ich hatte mir mein Schönheitsmoorbad etwas wärmer vorgestellt.“ Sie sah an sich hinunter. Bis über die Knie war alles schlammbedeckt und in den Stiefeln quoll es zwischen den Zehen. Sie bückte sich, die Stiefel auszuleeren, um besser gehen zu können, weil der
Schlick darin so sehr drückte. Plötzlich wurde ihr kalt. Wann trollt sich der Kerl endlich?, dachte sie grimmig. Als ob er das gehört hätte, kam es mitfühlend von ihm:“Jetzt brauchen Sie vor allem ein heißes Bad. Hoffentlich haben Sie es nicht weit.“
Da der Nebel sich weiter gelichtet hatte, konnte sie sich orientieren. „Zum Glück nicht.“ Sie verabschiedete sich und stürmte davon. Er schaute ihr noch lange nach. Wie eigen diese Frau war. Wahrscheinlich ahnte sie nicht, dass selbst Zorn und auch die Schlickspritzer im Gesicht ihr standen. Wäre schön, wir würden uns wieder treffen.
Eigentlich waren weder in seiner Stimme noch in seinem Gesicht Herablassung zu lesen. Ob der mich wirklich gerettet hätte, wenn es brenzlich geworden wäre?

Die Heizung in ihrer Ferienwohnung funktionierte hervorragend und DIE ZEIT trocknete sogar die Gummistiefel erstaunlich schnell.

Sie trafen sich tatsächlich wieder. Diesmal nicht im Nebel, sondern bei heftigem Wind und erkannten sich dennoch, obwohl dick vermummt in Kapuzen und Schals. „Was hat Sie bei diesem Wetter nur hier an die Küste verschlagen?“ „Das könnte ich Sie genau so fragen“, entgegnete sie patzig. Sie wunderte sich selbst über ihren Ton. „Immer noch ärgerlich, weil unsere erste Begegnung nicht frisch gebadet im Spitzenkleidchen stattfand?“ Sie schluckte. Wie genau er ihre Stimmungslage erkannt hatte! Sie brach in schallendes Gelächter aus. „Bin ich einem Psychologen begegnet?“ „Nicht ganz.“ Als er nicht weiter sprach, fragte sie,
„und, was bringt Sie hierher?“ „Nachdenken?…….“ „Über die Zeit? Hier angesichts der Gezeiten?“ „Bin ich einer Philosophin begegnet?“ „Vielleicht…“ Überrascht blickten sie sich an. Sie schwiegen lange. Durch die Kapuzenschlitze konnten sie nur wenig die Augen des anderen erkennen und ahnen, wie viel Lachen, wie viel Ernst, wie viel Überraschung sie ausdrückten. Zugleich schwang da etwas mit, das nicht oder noch nicht deutbar war. Wie um die Spannung zu lösen, meinte er scherzhaft: „Jedenfalls wetterfest.“ „Und schlammerprobt“, antwortete sie grinsend.
Der Wind zerrte an der Kleidung, knatterte in der Plastikkapuze. „Beim Stehenbleiben wird mir kalt. Ich möchte weiter gehen.“ „Kann ich gut verstehen. Vielleicht treffen wir uns ja noch einmal und vielleicht ist das Wetter uns dann freundlicher gesinnt?!“ „Gewiss….“. Energisch zog sie los.

Weshalb war sie im November an die Nordsee gefahren? Felsenküste mit wildschäumender Brandung gab es nicht. Sturmfluten ja, verheerende, wie sie an den Markierungen der Treppen zum Deich ablesen konnte. „Nordsee ist Mordsee“. Bezog sich dieser alte Spruch darauf? Aber war die Gefahr nicht durch den weltweit einzigartigen Deichbau inzwischen gebannt? Auch hatte sie gehört, dass hunderte Schiffwracks noch immer auf dem
Meeresgrund lagen und für die Schifffahrt zusätzlich gefährliche Untiefen bildeten.

Doch hier ein riesiges Wattenmeer über das sogar bei Flut das Wasser nur müde ausplätscherte.

Heute war es wieder nass-grau, jedoch nicht so stürmisch, so dass sie auf die knatternde Plastikkapuze verzichten konnte.
Hatte der Strandmann rechtbehalten mit seiner Wetterhoffnung? Würden sie sich tatsächlich noch einmal treffen? Und würde sie das wollen? Einerseits störte sie seine ruhige Selbstgewissheit, andererseits schien er nicht uninteressant und….Eins war sicher, sie war nicht hierher gefahren, um jemanden kennenzulernen!

Weil die Natur so unspektakulär war, fand sie Zeit, Nuancen des scheinbar immer Gleichen wahrzunehmen; sich einzufühlen in diese grau-nasse Situation, um wirklich Da-zu sein, um diese Welt zu verstehen. War dies nicht sogar der eigentliche Grund der Reise gewesen?
Es gab nur Grau und Blau, die aber alles andere als nur einfach grau und blau waren. Also das „Blau“ am Meer. Wie würde sie das ausdrücken – in Worten, in Farben-welche Emotionen entstanden?

Ein Königsblau –klar, nein. Ein graues Blau, eher sogar ein schwarzes Blau, tief; weich, kein hartes, spitzes, unmissverständliches Blau, sondern- ach nein, gerade jetzt mit einem rosa Widerschein; ein violettes Blau hin zum Ultramarin spiegelte sich in modrig farbenen Priellachen. Auf einmal riss der geschlossene, schwere bleigraue Himmel auf und man ahnte das Azur. Je heller es wurde, desto intensiver das Grün-blau. Türkis farben. Es sog dich an. Es sog dich auf. Es sog dich in das Himmelsloch. Und draußen drum herum das bleischwere tote Graublau, unbeweglich, unmissverständlich hoffnungslos.

Er erkannte sie schon von weitem an der schwarzen Jacke, dem orange-schwarzen Schal- irgendein orientalisches Muster –überhaupt fast alles in schwarz, aber ohne Kapuze, deshalb war die windzerzauste Mähne diesmal sichtbar. Einige widerspenstige, schwarze Locken hatten sich stets hervor gekringelt. Plötzlich merkte er wie sehr er sich freute, sie zu sehen.
Warum? Abwechslung hier am einsamen, nassen Strand? Ja, er war neugierig, gestand er sich. Was war das für eine Frau, offensichtlich allein, ohne Freundin, ohne Freund!, ohne Hund. Dabei machte sie keineswegs einen unglücklichen Eindruck. Beruf? Gereist? Er würde sie fragen. Jetzt blieb sie stehen, sah aus, als ob sie über irgendetwas nachdachte. Nein, sie hatte ihn noch nicht gesehen, denn sie blickte aufs Meer hinaus.

Dann standen sie sich gegenüber. Weder Begrüßung noch Überraschung, stattdessen blickten sie sich lange schweigend an.

Als hätte ihr Gespräch nie aufgehört – dabei hatte es noch nicht einmal angefangen- fragte sie ihn:“Kennen Sie den Film „All is lost“ mit Robert Redford?“ „In dem er allein das havarierte Segelboot vor dem Sturm in Sicherheit bringen will?“ „Ja. Daran musste ich gerade denken. Er versuchte in die Schifffahrtsroute zu kommen, damit er gesehen und somit gerettet werden konnte.“ „Dabei hatte er Glück, nicht von den Riesen überrollt zu
werden.“ „Genau so kommt mir hier die Situation vor. So wie mich im Nebel der Pott fast überfahren hätte. Wieso können die hier so dicht am Ufer fahren? Die haben doch einen
enormen Tiefgang!“ Sie blickte ihn fassungslos an. Offen, neugierig aus großen ausdrucksstarken Augen.
Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen, um, ja um sie zu trösten; denn der Schreck stand noch in ihnen zu lesen.

„Sie haben recht. Das ist gefährlich, weil – wie in dem Film – der Kapitän auf der Brücke die Menschlein so dicht am Schiff nicht erkennen kann. Auch bezweifle ich, ob wir auf dem Radar überhaupt sichtbar wären.“
„Hm.“ „Halt eine andere Art des Abenteuers, wenn hier im Wattenmeer schon keine wilden Brecher toben“. „Sie machen sich lustig?“ Und nach einer Pause gab sie zu: “Ja, ich bin tatsächlich ein wenig ent-täuscht. Denn ich kenne die Nordsee durchaus anders.“
„Verraten Sie mir, warum Sie im November hierher gefahren sind?“ „Sie meinen Südseestrand wäre geeigneter?“ Gerade noch rechtzeitig entdeckte er das herausfordernde Funkeln in ihren Augen. „Na, klar, so als Strandschönheit in Reisegesellschaft.“ Schallendes,
befreiendes Gelächter. Die Anspannung, das Abtasten, das Sichkennenlernen war einer schlichten Vertrautheit gewichen. Es war, als kennten sie sich schon immer.

Etwas in ihnen war in Schwingung geraten ohne dass sie sich körperlich berührt hatten.
Unterschwellig schienen sie beide das zu spüren. Doch im Augenblick war keine Zeit, dem nachgehen. Oder doch noch zu früh? Zu riskant oder auch schlicht zu unwahrscheinlich sich zu trauen, den anderen mit direkten Fragen zu bedrängen, ihn am Ende zu vergraulen?
Zu kostbar diese Begegnung.

„Also, eher Reisen als Urlaub machen?“ „Ja, da-sein, nicht weg-sein. Außerdem steht der Kopf an den Küsten freier im Wind.“
„Sie scheinen eine Reisende zu sein, eher auf der Suche nach dem wozu als nach der Sensation eines – sagen wir – exotischen Ziels?“
„Haben Sie nicht gesagt, Sie seien hier, um nachzudenken? Das kann manchmal das größere Abenteuer sein als…als eine Safari“, fügte sie nachdenklich hinzu.

Eben noch waren ihre Augen hell, blitzend, strahlend gewesen, jetzt dunkel-schimmernd. Vorsichtig meinte er, „es kommt darauf an, über was man nachdenkt, worauf man Antworten sucht. Wieweit man sich traut, ehrlich zu sein,“ fügte er dann noch hinzu.
„In einer Landschaft, wie die hier sich gerade präsentiert – unspektakulär, sie verlangt keinen Überlebenskampf im Moment –kann man gut nachdenken, wenn man allein ist.“
„Fehlt das Gespräch. Im Austausch klären sich die Gedanken“, ergänzte er ernst. „Und: sind nicht Reisen Gespräche mit der Welt“?
„Stimmt“, sagte sie ruhig und blickte direkt in seine Augen, die sich verändert hatten, Intensität und Aufmerksamkeit meinte sie zu lesen.

Wieder schwiegen sie, sich wundernd, was da mit ihnen geschah. Ein solch unmittelbares Verstehen, das schwindeln machte.

Plötzlich eine aufgeregte Stimme:“Ach, hier bist du! Ich habe dich schon überall gesucht.“ Ein junger Mann blieb schnaufend bei ihnen stehen.
Gerade hatte er sie nach einer Adresse fragen wollen. Er hatte beobachtet, wie sie mit einem Smartphone fotografierte. Also konnte man Adressen austauschen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie sich ja noch nicht einmal vorgestellt hatten– kannten ihre Namen nicht- keine Zeit….
Und nun platzte Georg dazwischen! Zerriss dieses Zarte von Ahnung und Hoffen.

Sie fasste sich als erste, sagte lachend:“Ich suche nicht, ich finde“. Dieser Spruch von Picasso hatte sie stets gleichermaßen fasziniert und geärgert. Aber, er hat recht, dachte sie.

Damit ging sie.

Bei der Entscheidung im November an die Nordsee zu fahren, hatte sie die Vorstellung von einem wilden Himmel geleitet, von Wolkenlandschaften, in denen man sich verlieren konnte, sich nach Unendlichkeit sehnend .
Der wilde Himmel spielte sich auf einmal innen ab. „Und nicht nur bei mir.“

Das Wunder des Verstehens von gleichem Ungleich und ungleichem Gleichem, von unterschiedlichem Gleich. Eine Begegnung, die sie nicht gesucht hatte, die geschehen war. Gefunden?
Waren sie Platons Kugelmenschen, die geteilt ihre andere Hälfte fanden?