2011 reiste Ina allein auf eine einsame Hütte in den Tuxer Alpen. Lange hatte sie im Internet gesucht, ob die Hütte auch wirklich einsam lag, weil sie allein sein wollte, um nachzudenken.
Der Tod ihres Mannes hatte sie in eine existentielle Krise gestürzt. Sie musste sich neu erfinden. So nannte sie es. Es schien ihr, dass sie nur durch die totale Reduktion erfahren würde, was sie wirklich im Leben brauchte – zum Überleben, um vielleicht auch irgendwann einmal wieder zu leben.
Die Abgeschiedenheit würde helfen, das Wesentliche zu entdecken, hoffte sie. Letztlich ging es darum, herauszufinden, wie es um ihre Resilienz bestellt war.

Diese Geschichte über die Begegnung mit sich selbst schrieb sie im April 2020. Eine erneute Krise, die sie gepackt hatte, war vielleicht der kaum bewusste Auslöser. Neun Monate konnte sie durch einen Unfall verursacht erst gar nicht, später kaum gehen und fragte sich, ob dies nun ihre Zukunft sei, fragte sich erneut, wer sie sei, wer sie noch sei oder sein wird.
Wieder ging es um Resilienzerfahrung, diesmal zudem eingebettet in die gesellschaftliche Pandemiekrise.

Bestätigte Resilienz macht stark.

2011 begann das Abenteuer bereits damit, dass der Vermieter sich weigerte, die Hütte an Ina zu vermieten mit der Begründung, sie „sei ja nur eine Frau“ und außerdem allein.
Was am Ende sich durchsetzte, ihre Hartnäckigkeit oder seine Geldgier, wusste sie nicht zu sagen. Jedenfalls, nachdem ihr FIAT akzeptiert wurde, durfte sie kommen.
Das mit dem Auto hatte schon seine Berechtigung wie sie sehr schnell feststellte, denn der Weg hinauf bestand aus ungeheuren Furchen, an denen ein tiefliegender Sportwagen hoffnungslos gescheitert wäre. Es war auch für ihr Auto grenzwertig, aber sie schafften es.

Die Hütte war groß. Durch einen Flur, an dessen Ende eine Art Vorratskammer in den Berg getrieben worden war, ging es rechts ab in eine Wohnküche mit stattlichem Holzofen, daneben ein Spülstein aus Granit. Alle Möbel waren aus Zirbelholz – wunderschön! Von der Wohnküche kam man in eine Schlafkammer. Um das Haus herum gelangte man über eine Treppe in einen weiteren Schlafraum, unter der Treppe war das Klo und das wichtigste: ein riesiger Holzvorrat zum Heizen und Kochen.
Beruhigt konnte Ina sich nun ans Auspacken machen. Doch zuvor wollte sie noch einen Kaffee trinken und dabei ihre neue Umgebung genießen. Allerdings –so wurde ihr plötzlich klar- musste sie dann erst Wasser vom Brunnen holen, den Ofen anheizen, um das Wasser zu kochen und einen Filter suchen und außerdem in ihren Vorräten den Kaffee finden. Sie beschloss diese Herausforderung auf später zu verschieben und bei einem Glas Wein die Ankunft auf der ersehnten Hütte zu feiern.
Das Weinfässchen fand sie sofort im Gepäck ebenso ein Glas im Schrank und stellte beides auf den Tisch vor der Hütte. Rasch pflückte sie ein paar Blumen und ließ sich mit einem Seufzer des Wohlbehagens auf der Bank nieder, vor sich auf dem Tisch Wein, ein Hasenbrot und Blumen. Langsam kam sie an, aller Lärm des gequälten Motors verstummt, Mahnungen und Warnungen lösten sich auf, die gespannte Erwartung wich einem unendlich warmem Glücksgefühl. Zwar hatte sie mit raschem Blick bei der Ankunft die bewaldete Felswand vor sich gesehen und rechts eine schroffe Schlucht und hinter sich steile Almhänge, aber die überwältigende Schönheit überhaupt nicht wahrgenommen, zu sehr war sie mit dem Ankommen befasst gewesen.
Erst allmählich, je mehr die Ohren frei wurden, hörte sie das Plätschern des Brunnens vor sich, das Pfeifen der Murmeltiere und die schrillen Schreie der Raubvögel. Sonst: nichts.
Stille. Stille, die in den Ohren dröhnte.
Unten im Tal war es heiß, geradezu schwül gewesen, hier auf 2900m streichelte eine erfrischende Brise. Die Luft duftete würzig.
Sie schloss die Augen und atmete die Stille, die Wärme. Alle Anstrengung fiel ab.
Als sie die Augen wieder öffnete, in die Sonne blinzelte, stand der Wein noch unberührt vor ihr und das Hasenbrot ungegessen.
Erst jetzt bemerkte sie die Schönheit der schroffen Felsen: ocker-grau-schwarz, siena, umbra, rostrot in atemberaubenden Formen, auf dem Berghang vor ihr standen einig sturmzerzauste Fichten und neben dem Auto blühte rosa-violetter Almenrausch.
Und plötzlich brach ein jauchzender Jubelschrei aus ihr heraus: Ja!! Wie herrlich! So habe ich es erträumt. Ich bin hier. Ich bin angekommen.

Sie wusste nicht, wie lange sie so saß und schaute und schaute und staunte und nur glücklich war. Jedenfalls „weckte“ sie irgendwann ein etwas kühlerer Wind aus der Verzückung. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie noch einige Hauspflichten hatte: auspacken, einrichten, ach ja, Holz und Wasser holen. Und irgendwann würde es dunkel werden –ohne Elektrizität.
Also erst Holz holen, dann auspacken, nein erst Bescheid sagen, dass sie angekommen sei.
Ina hatte das Handy mitgenommen für den Fall, dass ihr auf dem Berg etwas passieren sollte und eben um ihre Ankunft mitzuteilen. Weil sie es nicht aufladen konnte, galt es nur für den Notfall. Sie würde sich kurz fassen. Sie war gerade in der Küche. So rief sie von dort aus an. Nichts. Klar, von draußen. Nichts. Etwas weiter weg vom Haus- nichts. Vielleicht mehr im Freien für den Empfang- nichts. Langsam stieg sie die Alm hinter dem Haus hoch, kletterte auf einen kleinen Felsen-nichts! Allmählich fing sie an sich zu wundern: im Jemen hatte sie überall Empfang, selbst auf Sokrota, diese den Galapagos Inseln ähnliche, jemenitische Insel im Indischen Ozean, hier in Europa nicht? Sie wollte es nicht glauben und stieg immer weiter. Obwohl ihr vom stürmischen Klettern heiß wurde, spürte sie den kühleren Wind und entdeckte auf einmal, dass die Wolken dunkler, nicht nachtdunkel, sondern gewitterdunkel geworden waren. Auch merkte sie, dass sie bei ihrem Entschluss, `mal eben Bescheid zu sagen` natürlich nicht die Bergstiefel ausgepackt und angezogen hatte.
Auf dem Rückweg tröstete sie sich damit, dass sie gesagt hatte: …“einsame Hütte, es kann sein, dass…“

Nicht der immer stärker werdende Sturm störte ihre erste Nacht, sondern der unvorstellbar heftige Regen, der mit Urgewalt auf das Blechdach herunter prasselte. Es schüttete so unaufhaltsam, dass sie Albträume plagten, Hütte und auch Auto würden ins Tal gerissen. Solche Regenmassen hatte sie noch nicht einmal während des Monsuns in Indien erlebt. Auch am nächsten Morgen rauschte es unbarmherzig weiter. Doch die Hütte hatte Stand gehalten und auch das Auto war nur ein wenig „gewandert“ trotz der Steine, die sie unter die Räder geschoben hatte.
Auf dem Weg bis in die Küche war sie völlig durchnässt. Auch musste sie einen Bach überqueren, den sie am Tag zuvor nicht wahrgenommen hatte.
An diesem Tag lernte sie das Ofenungetüm lieben. Es spendete Wärme. Bald war der Ofen rundum dekoriert mit nassen Kleidungsstücken. Und sie kochte wie ein Weltmeister nicht nur Kaffee, sondern auch ein Mittagessen.
Die Welt draußen versank im Wasser. Sie hatte Zeit in der Realität anzukommen.

Weshalb war sie hier herauf gekommen – trotz erheblicher Widerstände? Die Schönheit der Natur, die sie gestern so überreich empfing –war zum Glück nicht das Hauptmotiv, denn sonst müsste sie nun verzweifeln.
Sie suchte Konzentration und Reduktion. Würde sie das aushalten mit Nahrungsmitteln für 14 Tage, 4 CD`s, Büchern, Schreib-und Zeichenmaterialien? Ohne die vertrauten Bequemlichkeiten von Wasser, Heizung, Strom? Ohne Sozialkontakte?

(Irgendwann einmal tauchte der Vermieter auf, um zu schauen, ob sie nicht unter einem Hüttenkoller litt. Als Gastgeberin spendierte sie ihren letzten Tee zu seinen Plätzchen. Am nächsten Tag war sie eingeschneit.)

Jetzt aber machte sie es sich gemütlich, arrangierte ihre Stifte und Bücher und fing bei Petroleumlicht an zu schreiben. Schreiben strukturiert, bewahrt die Gedanken davor sich zu verfransen, half ihr, sich zu konzentrieren.

Irgendwann im Laufe des Tages ließ der Regen etwas nach. In der Nacht wiegte sie das gleichmäßige Rauschen in den Schlaf.
Am nächsten Morgen wurde sie von einer strahlend reinen Bergwelt begrüßt. Die schroffen Felsgipfel strahlten weiß: es hatte geschneit! Welch ein Zauber!

Ina begann die Umgebung zu erkunden, packte etwas zu Essen und zu Trinken in den Rucksack, die Zeichensachen und die Kameras.
Als sie einmal von einer längeren Wanderung abends die Hütte anstrebte, entdeckte sie von der Höhe aus, dass eine große Kuhherde sich auf dem Weg versammelte hatte und sich nicht bewegte wie sie beim Näherkommen feststellte. Die Kühe standen dicht gedrängt. Sie nahmen den gesamten Weg ein. Es gab kein Vorbeikommen, rechts fiel der Weg steil ab, links ging es eine Steilwand hoch. Warum standen die denn bloß nur so wie angewurzelt?
Sie war müde und hungrig, freute sich auf zuhause. Außerdem wurde es dunkel.
Umkehren und einen anderen Weg suchen, hätte sie mindestens zwei Stunden gekostet. Sie überlegte, was hätte ein Senn gemacht? Wie trieb der seine Kühe an?
Schließlich fasste sie sich ein Herz und ihren Wanderstock fester und begann sich zwischen die Leiber der riesigen Tiere zu drängen. Dabei sprach sie beruhigend auf sie ein, „mach doch Platz, Lisa, du auch Rita und du, Susi“. Dabei versuchte sie auch noch den gewaltigen, grünen Platschern auszuweichen. Endlich kam sie schweißgebadet bei den vordersten Kühen an und entdeckte den Grund, warum die nicht weitergingen: einen Elektrozaun, der zudem über einen Bach gespannt war. Der hinderte sie. Perfekt, grummelte Ina. Hier gibt es Strom und in meiner Hütte nicht! Und dann noch durch Wasser!
Es half nichts. Sie musste unter einer Kuh durchkriechen und über den Zaun klettern, um nachhause zu gelangen.
Ihr fiel plötzlich ein, dass der Vermieter sie auch gefragt hatte, ob sie Angst vor Kühen hätte. Nein! Warum? Das wurde ihr nun klar. Ihr fiel aber auch eine Geschichte aus ihrer Kindheit ein, vielleicht prägend.


In den Sommerferien durfte sie als Stadtkind Lisa weiden. Lisa hatte wunderschöne, riesige, sanfte, braune Augen. Leider klebten in ihnen stets Fliegen, die Ina geduldig immer wieder entfernte. Einmal schritt Lisa einfach weiter und trat dabei auf Inas Fuß. Es tat höllisch weh, aber Ina konnte ihr nicht böse sein, denn es geschah aus Versehen; Ina war so klein, dass sie fast unter der Kuh verschwand.
Nein, Angst vor Kühen hatte Ina nicht.
Kurz darauf kehrte sie erleichtert in ihre Hütte ein und war schon wieder stolz auf sich, weil sie es geschafft hatte, den Ofen über Stunden in Gang zu halten. Jetzt brauchte sie viel, sehr viel heißes Wasser, um sich von ihrem innigen Kuhkontakt zu befreien.

Das also war mit der Frage gemeint, ob sie Angst vor Kühen hätte, resümierte sie. Auch die Funktion des lockeren Lattenzauns um das Gelände klärte sich – endgültig ,als Ina die Kühe beobachtete wie sie sich verrenkten, um Gras zu rupfen, was ja auf ihrem Gelände viel schmackhafter war als jenseits des Zauns. Die Blumen auf ihrem Tisch würden den Kühen wahrscheinlich noch besser munden, überlegte sie.

Es gab etliche, meist Kleinigkeiten, deren Sinn sich ihr erst allmählich erschloss je länger sie in dieser Umgebung lebte und schließlich nicht nur Anteil nahm, sondern ein Teil wurde.
Innerlich leistete sie dem bärbeißigen Vermieter Abbitte. –

Eines Morgens weckte sie eine seltsame Stille. Dicker Nebel hüllte die Welt ein, schluckte sämtliche Laute. Der Nebel war so undurchdringlich, dass sie sich am Treppengeländer festklammerte und am Haus entlang tastete bis zur Haustür. Weder Bank, Tisch, noch den Brunnen konnte sie sehen. Unheimlich auch die absolute Stille, die anders war als sie sonst Stille liebte.
Nur gut, dass sie es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, Holz und Wasser in genügender Menge bereits am Abend herein zu holen. Auch Streichhölzer, Petroleumlampe und Taschenlampe fand sie selbst in absoluter Dunkelheit.
So zelebrierte sie gelassen erst einmal ihr Frühstück, legte 1-2 Patiencen bis sie spürte, etwas mit diesem Nebel war anders als sonst. Denn eigentlich mochte sie Nebel, wenn sie nicht gerade termingebunden auf der Autobahn feststecke.
Dieser Nebel war total und verstärkte, ja, löste überhaupt erst das Gefühl von Einsamkeit aus. Eine tiefe Melancholie erfasste sie.
Ihr wurde der wahre Grund, weshalb sie sich hier auf die Hütte zurück gezogen hatte, bewusst. Sicher, es ging auch darum, sich zu erproben wie sie mit Reduktion und auch Konzentration würde umgehen können, der Suche nach dem Wesentlichen. Die Frage nach der Resilienz stand im Raum. Doch darüber hinaus ging es um Trauerarbeit, das Sich neu erfinden nach dem Tod ihres Mannes.
Auf einmal kam ihr H.Hesses`s Gedicht vom Nebel in den Sinn:

Seltsam im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein.
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht wahr,
Nun da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.


Wahrlich, keiner ist weise,
der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen dich trennt.


Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

Sie war allein, aber nicht einsam. Sie hatte ihre Musik. Sie lauschte Schubert`s Impromptus. Wie so oft fing die Musik sie auf. Sie fühlte sich verstanden und geborgen und insofern „beheimatet“. Anders noch als Bildende Kunst oder Literatur nimmt Musik die Gefühlsschwingungen unmittelbar auf und „beantwortet“ sie. Es entsteht ein Dialog, in der Allein-sein „aufgehoben“ ist.
Irgendwann hörte sie ihre 2.CD, Mozart, Klavierkonzert A-Dur.

Ein paar Tage später wurde es ernst: sie zählte ihre Vorräte und daraufhin die Tage. Voller Schreck wurde ihr bewusst, sie musste sich auf Abschied nehmen vorbereiten. Zunächst wurde sie kreativ, kombinierte, erfand, suchte Kräuter, um den permanenten Salzgeschmack der Büchsenkost zu variieren. Aber es half nichts, der Blick in den Kalender machte deutlich, sie musste ans Packen denken.
Und dann war sie zum zweiten Mal eingeschneit. Probehalber bahnte sie sich den Weg bis zu einer entscheidenden Kreuzung in der Hoffnung die am nächsten Tag wieder zu finden.
Auf der Hinfahrt hatte sie kaum Zeit, sich den Weg einzuprägen, weil sie ihre gesamten Fahrkünste brauchte, um dem Vermieter, der sie lotste, zu folgen. Mehr als deutlich hatte er sie spüren lassen, wie wenig er ihr zutraute und nun dem Flachlandtiroler zeigte wie man in den Bergen fährt. Oft konnte Ina nur an den Staubfahnen erkennen, in welche Richtung es ging. Manche Kehren waren so eng, dass man zurücksetzen musste. Immerhin an einer entscheidenden Gabelung hatte er auf sie gewartet. Aber wo war die?!
Ihr wurde zunehmend mulmig. Da waren die tiefen Furchen gewesen, jetzt vom Schnee eingeebnet, dazu ihre Sommerreifen…..

In der Hütte bollerte ihr inzwischen heißgeliebter Ofen tröstend vor sich hin, während sie die Hütte wieder „neutralisierte“, ihre Bilder wegräumte, Bücher und Zeichensachen verstaute und bei einem letzten Gläschen Wein das Abenteuer resümierte. Hatte sie ihre Ziele erreicht? Hatte der Drang nach Freiheit ihr Selbstbewusstsein und –sicherheit gebracht? War sie der Reduktion der Mittel gewachsen? Wie stand es um ihre Resilienz?

Ach, die Zeit war viel zu kurz gewesen. Wie gern wäre sie geblieben.

Am nächsten Morgen strahlte die Sonne vom tiefblauen Himmel und tauchte die Welt in strahlendes Weiß. Wie herrlich!

Mit jedem Kilometer, den Ina durch die Zauberwelt vorsichtig hinunterfuhr, wurde sie zuversichtlicher, dass es gelingen würde, den Weg zu finden.