Heute entdeckte Ina ein kleines Büchlein zwischen ihren Schreibsachen. Die Grafik auf dem Cover zeigte im Vordergrund ein kahlköpfiges Kind, im Hintergrund ein perspektivisch verzerrtes Krankenhausbett. Plötzlich schossen ihr mehrere Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Sie überfielen Erinnerungen an die krebskranken Kinder im Krankenhaus – ihre Hilflosigkeit, die Weisheit der Kinder. Die Weisheit sterbender Kinder. Sie war kaum fähig ein paar Seiten zu lesen und aufzunehmen. Gefühle, Geräusche, Gerüche überfluteten sie. Oskar, nein, er hieß Tobias. Wie er sich freute, wenn sie endlich! umgezogen schweißtriefend ankam. Sie fand Mathe, Deutsch zu machen nahezu unmöglich. Gab es denn nichts Wichtigeres als stinknormalen Unterricht – angesichts des Todes? Und dann der 17 jährige Hassan. Sie fragte ihn, was ihn interessiere? Er wollte in seinem grammatischen Ausdruck korrigiert werden!
Das Büchlein ist 2003 erschienen. Wer hat es ihr geschenkt? Seit 1999 war sie nicht mehr Leiterin der Schule für Kranke, somit auch nicht mehr Lehrerin. Sie hatte sich auf diesen Typ der Sonderschulen beworben, weil sie die schier riesige Vielfalt der Aufgaben reizte. Dort wurden zeitweise Kinder aller Schultypen von Grundschulen, Sonderschulen, Gymnasium-und Realschule bis hin zu Berufsschulen während ihrer manchmal monatelangen Erkrankung unterrichtet. Die meist psycho-sozialen, chronischen wie auch Krebserkrankungen der Schüler belasteten auch die Lehrer sehr. Sie hoffte mit ihrer zur pädagogischen Ausbildung zusätzlich psychotherapeutischen Qualifikation Hilfestellung geben zu können.

Manchmal waren die krebskranken Kinder so sehr geschwächt – sei es durch die Chemo-
therapie sei es durch die Rückenmarktransplantation, dass Unterricht nicht möglich war.
Manchmal merkte sie das erst, wenn sie nach oft halbstündiger Umziehaktion an ihrem Bett stand und sie dann schliefen.
Manchmal glückte es, in dieser Zeit Ärzte oder Schwestern zu sprechen und sich über die psychische Belastung aller Beteiligten auszutauschen. Es war eine Uniklinik, in der viele junge, aufgeschlossene Ärzte praktizierten. Mit der Zeit wuchs das Verständnis über den Zusammenhang von körperlichen und seelischen Prozessen.

In ihren Unterricht „schmuggelte“ sie immer öfter Literatur – wie z.B. für Hassan „Der kleine Prinz“ und hätte sie schon damals das Büchlein von „Oskar und die Dame in Rosa“ gehabt, gewiss auch dieses, weil die Kinder, die Schüler darin Nahrung und Unterstützung für ihren Lebenskampf fanden.

Und doch waren es meist die Kinder, die die Erwachsenen trösteten, die „weiser“ waren und „stark“; die während ihrer erzwungenen Ruhe erfahren hatten, loslassen zu können.

Ina hatte viel von ihnen gelernt.


St. Éxupery: Der kleine Prinz – erschienen im Anaconda Verlag
E.E.Schmitt: Oskar und die Dame in Rosa – erschienen im Fischer Taschenbuch Verlag